Montag, 29. September 2014

Bis zum Ozean

Die folgende berührende Geschichte entstammt dem Band KATZENGRÄSER von Dietmar Koschier (Resistenz-Verlag 2014). Mit Genehmigung des Autors hat Stefan Shin Veda mit ihm das letzte Drittel des Textes überarbeitet, um eine positive Botschaft der Geschichte zu bekräftigen.

Wenn das Atmen dermaßen schwerfällt, geht es zu Ende; Ausreden oder Beschwichtigungen wären fehl am Platze. Die Angehörigen stehen ums Bett herum, legen angemessene Trauer an den Tag und sprechen einander Mut zu. Aber ihre ‚Wird schon wieder!’-Parolen wirken plump und sind leicht zu durchschauen - für ihn naht die Sterbestunde! Und ob sie insgeheim nicht doch auch froh sind? Froh, von einem gewalttätigen und jähzornigen Familientyrannen loszukommen?

Er hat sich und Andere nie geschont. Jede Arbeit musste rasch und exakt verrichtet werden, sonst setzte es ein fürchterliches Donnerwetter. Zu tun gab es stets genug, die Arbeit ruhte nie. Unnachsichtig peitschte er alle voran. Nie hat er hinterfragt, ob sich das alles noch lohnt. Dass Menschen, die ihm nahestanden, darunter litten, schien ein annehmbarer Preis zu sein solange nur die Arbeit erledigt wurde. „Das Leben ist kein Zuckerschlecken!“ hat er immer gemeint. „Es zählt was du hast und was du bist“, stellte er fest, „keine Flausen und Träumereien!“ „So ist das Leben“, hat er gedacht, und alle mussten nach seiner Pfeife tanzen.

Seine Ehefrau wäre fast daran zugrunde gegangen. Ihr blieb jeder Wunsch versagt, für ihre Bedürfnisse reichten die Mittel nie aus. Tag für Tag war sie einer Atmosphäre herzloser Kalkulation ausgesetzt, erlebte Ablehnung am laufenden Band, sowohl als Mensch als auch als Frau. Sie erfüllte ihren Zweck als Arbeitskraft, darüber hinaus wurde sie kaum ernstgenommen. Wie es ihr geht, danach hat sich nie jemand erkundigt, ihren Anliegen wurde niemals Beachtung geschenkt. Dass sie Besseres verdient gehabt hätte, gesteht er sich jetzt erst ein, angesichts des nahenden Todes empfindet er Rührung wie noch selten. So gerne hätte sie beispielsweise das Meer gesehen. Davon hat sie immer geschwärmt: Algarve, Estremadura, Costa da Morte, Costa del Sol,… In drei Jahrzehnten haben sie es jedoch nur zu drei Busreisen gebracht. Jeweils für ein paar Tage, Ausflüge in die Grenzregion. Die Arbeit fuhr stets mit im Hinterkopf. Dass all die Jahre sie ihm jene Stütze war, auf der er sein Lebenswerk aufbauen konnte, wird ihm erst jetzt schmerzhaft bewusst. Erst am Sterbebett ist er in der Lage, ihr jene Wertschätzung entgegenzubringen, nach der sie sich ein Eheleben lang vergeblich gesehnt hat. Überwältigt von solch ungewohnten Gefühlen, als er, wenn schon nicht Liebe, so doch Zuneigung empfinden kann für jene Frau, mit der er sein Leben verbracht hat, fühlt er immense Reue. Alles was er ihr jemals angetan und zugemutet hat, will er wieder gutmachen, will mit einem Mal alles ungeschehen sein lassen. In Gedanken schließt er sie nun in seine Arme, so sanft und zärtlich wie er es tatsächlich kein einziges Mal getan hat. Abertausend Entschuldigungen und Bitten um Vergebung flüstert er ihr ins Ohr und versteigt sich sogar zu tränenreichen Liebesschwüren… Doch in Wirklichkeit nimmt das verhärmte Antlitz seiner Frau bloß ein paar kraftlose Bewegungen seiner ausgedünnten Arme wahr und aus seinem Mund fallen verstümmelte Phrasen.

Er ist voller Trauer weil er einsieht, dass er seine Frau nicht mehr erreichen kann, aber selbst diese Trauer kann er nicht mehr zum Ausdruck bringen. Seine Gedanken schweifen ab zu seinen Töchtern. Den beiden wurde ebenfalls jede Anerkennung verweigert. Stattdessen setzte er ihnen Zurechtweisungen und Maßregeln vor, davon reichlich. Nichts schien gut genug in den Augen des strengen Vaters. Selbst Erfolge kamen nicht ohne unterschwelligen Tadel davon – „Das hätte besser gehen können!“ Jedes Bedürfnis nach Zuwendung wurde von Kindheit an grob abgeblockt. Schlechtes Gewissen blieb für sie übrig. So sind sie herangewachsen ohne große Selbstachtung, ohne Ermutigung, zurechtgestutzt zu Mauerblümchen. „Und das Schlimmste“, denkt er nun und müsste tief schlucken wenn er es noch könnte, „sie haben nun ebensolche Ehemänner wie ich einer war!“ und das bricht ihm schier das Herz. Er sieht seine Töchter, seine Fixsterne, in einem anderen Licht, aber mittlerweile fehlt ihm die Fähigkeit, sich ihnen verständlich zu machen. Und so pressen seine Töchter manche Träne hervor, geben sich bedrückt und klamm am Sterbebett ihres Vaters, doch in ihrem Herzen berührt sie sein Sterben kaum.

Aufgrund dieser Einsicht von großem Bedauern erfüllt, von Enttäuschung und Kränkung – er muss einsehen, dass ihm eine letzte Versöhnung mit seinen Töchtern versagt bleiben wird - kommt ihm sein Sohn in den Sinn. Der Gedanke an diesen tröstet ihn ein wenig in seiner völligen Hilflosigkeit. Zwar sieht er seinen Sohn jetzt nicht im Kreis der Umstehenden, denn auch sein Augenlicht hat in den vergangenen Minuten rapide abgenommen, hat sich getrübt als läge ein Schleier auf seinen Augen, doch wird er bestimmt darunter sein.

Sein Sohn, mit dem es so viele Sträuße auszufechten galt. Kampfbereit hatten sie einander umschlichen. Der Vorkriegszustand war permanent und mehr als einmal waren sie zornerfüllt aufeinander gekracht, sodass jeder im Haus ein baldiges Unglück befürchtete. „Diese Schlampe bringst du mir nichts ins Haus!“ hat er als Vater gebrüllt und mit seiner Faust nicht bloß auf den Tisch geschlagen. Die Rebellion dauerte lange an und nahm viele Kraftreserven in Anspruch. Mit der ganzen Macht und Gewalt eines Älteren ist es ihm dennoch gelungen, vom Sohn Gehorsam abzupressen. Er hat ihn schließlich doch unterjocht, hat ihn an Haus und Hof gebunden wie einen jungen Ochsen. Mit Drohungen und Verwünschungen hat er ihm zugesetzt, bis sein Sohn Vernunft annahm. Auch wenn weiterhin Wachsamkeit und Heimtücke des Vaters vonnöten war, hat sich sein Sohn gefügt und mitgeholfen, Betrieb und Haushalt in Schwung zu halten, obgleich er den Vater sicher nicht geliebt hat. „Du bist ein braver Sohn, ein guter Sohn. Ich bin stolz auf dich. Verzeih mir all meine Fehler“, möchte er ihm sagen, aber schafft es nicht einmal, seine Lippen zu öffnen.

Er hat als Mensch, als Freund, als Ehemann und Vater versagt, gesteht er sich ein, nicht jedoch als Geschäftsmann. Er hat Ansehen in der Gesellschaft erworben. Sein Wort galt etwas. Er hat seinen Besitz vermehrt und vergrößert, sodass seine Nachkommen davon noch zehren werden. Zumindest das hat er nicht falsch gemacht, selbst wenn er sehr bald Abschied nehmen muss von all dem, was er mit eigener Hände Arbeit erschaffen hat: die Gärten, die Stallungen, die Zucht, die Felder, das Haus. Nie wieder wird er einen Fuß an diese Orte setzen, nie wieder dort ein Werkzeug zur Hand nehmen, nie wieder jemanden zur Arbeit rufen. Er sieht seinen gesamten Besitz in all dessen Pracht vor sich dastehen und fühlt plötzlich wie sinnlos und trostlos all diese materielle Anhäufung ist. Könnte er auch nur noch einen einzigen zusätzlichen Tag mit seiner Familie verbringen, er hätte auf der Stelle alles aufgegeben, sich von seinem gesamten Besitz verabschiedet und ihn eingelöst für einen echten Moment der Liebe und Verbundenheit zu seiner Frau und den Kindern.

Ein leiser Seufzer, kaum mehr als ein Hauch, weht von seinen Lippen. Danach wird es ruhig. Sein Kopf fällt zur Seite und sein ersterbendes Augenlicht erhellt sich ein allerletztes Mal um einen Blick einzufangen, durch das Fenster auf die saftig grünen Wiesen und den sonnenhellen Tag dahinter. Mit absoluter Gewissheit fühlte er in allen Zellen seines Körpers, auf allen Ebenen seines Seins, dass er mit seiner Familie und seinen Freunden dereinst wieder vereint sein würde. Er wusste nicht wann dies geschehen würde, er wusste nicht wie sich dies vollziehen würde, aber er wusste mit absoluter intuitiver Sicherheit, dass es so sein werde. Und dass er dann jener Vater, jener Ehemann, jener Freund und Ratgeber sein würde, der er zu Lebzeiten bereits hätte sein können, hätte er seine besten Anlagen verwirklicht. Er bekam eine zweite Chance. Dann wollte er alles besser machen, schwor er sich mit ganzer Kraft seines letzten Gedankens.

Unmittelbar vor seinem allerletzten Atemzug, bevor er sein Selbst an die lichte Ewigkeit übergeben muss, erfasst ihn ein tiefer, nie zuvor gekannter innerer Friede, und seine Seele schwelgt in Leichtigkeit und anhaltender Freude. Die Erkenntnis, dass sein Leben von himmlischem Segen begleitet war und nur er selbst derjenige gewesen ist, der sich den Weg zu Lebensfreude und Glück verbaut hat, erfüllt ihn mit grandioser Erleichterung. Das Leben war Liebe und Gnade, er hatte es bloß die ganzen Jahre nicht bemerkt, obwohl es mittlerweile so offensichtlich schien. Als sein Engel ihn abholt, ist sein ganzes Sein reine Dankbarkeit und Liebe…